abgesehen davon, dass es eine plattitüde sondergleichen ist, jemanden als einen "der wahrhaftigsten Vertreter" der Literatur zu (be-)zeichnen, ist es überdies auch erstaunlich und entlarvend, dass offenbar darauf bestanden wird, dass sie keine vertreterin ist.
edit: habe gerade gehört, dass der ORF für diesen hör/tipp/denkfehler voll verantwortlich ist.
selten habe ich mich auf einen abend so gefreut wie auf diesen. bei seinem letzten konzert in wien spielte er in der staatsoper, wo ich weit oben irgendwo in einem balkon gesessen bin und kaum etwas von dem da unten über die bühne gehenden klangweltgebäude mitbekommen habe. das war schade, denn das vienna konzert 1992 war eines seiner besten.
diesesmal leistete ich mir gemeinsam mit meinem freund helmut karten zu je 125 euro, wir sind in der 5. reihe gesessen, und die akustik war in dieser nähe wunderbar.
um so glücklicher war ich, als der beginn und auch alle weiteren stücke von einer intimen inspiriertheit waren, die mich an seine besten konzerte erinnerte. jarrett brachte - aus meiner perspektive - ein "best of" (soweit man bei improvisierter musik von so etwas sprechen kann). es erschien mir wie eine reise zu orten, an welchen er in den letzten jahrzehnten bei soloconcerts schon des öfteren gewesen ist, was für fans wie helmut und mich natürlich ein geschenk besonderen ranges ist. soweit zu den guten nachrichten.
der tintentropfen in der milch, der peitschenschlag am rücken, das gerstenkorn im auge, die scherbe in der hand, der schmerz im kopf, der tritt in den arsch war das publikum im wiener musikverein. dauernd musste irgendwer husten, gerade an den ganz stillen, meditativen stellen; ein idiot wollte dieses event mit seiner videokamera mit nach hause nehmen, was jarrett auffiel. er sagte vor dem zweiten teil zu dem typ: "i will not sit down, before you stand up!"; es gab sogar leute, die mitten in einem stück(!) aufstanden und rausgingen...
ich habe mich für diese husterer und räusperer und ignorranten in grund und boden geschämt.
aber das, was mich am meisten ärgerte, war, dass ich bei jedem husterer aus der herrlichen klangwelt jarretts hinauskatapultiert wurde und wieder minuten brauchte, hineinzufinden.
(...) Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. (...)
Aus: "Der Mann ohne Eigenschaften", Erstes Buch - Eine Art Einleitung